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Ein Ingenieur für alle Fälle

Ein nervtötendes Piepen dringt aus den Übungsräumen, dazu wird gehämmert und gelacht. Die Solar-Studenten der Technischen Universität Berlin (TU) haben Spaß an ihrer „Bastelstunde“. In diesen Abendstunden im Juli bauen sie in klimatisierten Räumen ein Offgrid-Photovoltaiksystem zusammen. Wenn das Ganze gegen 20 Uhr fertig ist, besteht es aus einem Photovoltaikmodul, Laderegler, Batterie, Wechselrichter, zwei Schaltern und zwei Lampen. Doch bis dahin ist es noch ein langer Weg. Theoretisch wissen die jungen Ingenieure, wie das System funktioniert, doch beim Aufbau fehlen ihnen die praktischen Erfahrungen, die jeder Elektriker besitzt. Wie verknüpft man Kabel in Abzweigdosen? An welche Stellen gehören die Sicherungen? Wie findet man heraus, ob ein Kabel richtig isoliert ist?

14 Studenten bilden den ersten Durchgang des Masterstudiums Global Production Engineering Solar (GPE Solar). In vier Semestern müssen sie immer wieder neue Lösungen suchen und Antworten finden. Ihr Studiengang ist der erste in Deutschland, der sich ganz auf die Prozesse in den Branchen Photovoltaik und Solarthermie spezialisiert hat. Die Studenten sollen die verschiedenen Verfahren der Strom- und Wärmegewinnung kennen lernen, die sich nicht immer klar trennen lassen, wie sich an der Konzentrator-Technik zeigt. „Wir wollen uns nicht auf eine Technologie festlegen“, sagt der Leiter des Studiengangs, Professor Günther Seliger. Die meisten Studenten wollen sich ebenfalls nicht zu früh spezialisieren, sondern einen umfassenden Überblick bekommen. Im Sommer 2010 müssen sie sich dann entscheiden, ob sie lieber in die Produktion gehen möchten oder vor Ort im Feld arbeiten wollen.

Verschiedene Berufe

So wandert Dozent Frank Jackson zwischen den Arbeitsgruppen herum und bespricht mit ihnen Details der Offgrid-Elektroinstallation. Aus eigener Erfahrung weiß er: „In den Gegenden, wo Inselsysteme benötigt werden, fehlen vor Ort oft die Fähigkeiten, sie zu bauen.“ Deshalb versucht er, den Ingenieuren praktische Fertigkeiten zu vermitteln. Zwar könne er eine dreijährige Installateursausbildung nicht ersetzen, doch immerhin Einblicke und ein Problembewusstsein schaffen. Für die Studenten heißt das: messen, prüfen und testen. Jeder Arbeitsschritt wird vom Piepen der Multimeter begleitet.

Am nächsten Morgen sitzen sie dann hoch konzentriert in einem sonnigen Seminarraum im Produktionstechnischen Zentrum direkt an der Spree. Sie diskutieren leise in ihren Gruppen und tippen Zahlen in Tabellen auf dem Laptop. An diesem Tag sind die Studenten keine Installateure, sie sind Banker oder besser Finanzexperten. In den letzten sechs Wochen haben sie kleine Photovoltaikkraftwerke geplant.

Alle Aspekte der Solartechnologie

Das von Robert Berardo, Manuel Matamoros und David López soll auf Sizilien gebaut werden und fünf Megawatt Leistung haben. Bis ins Kleinste hat die Gruppe die Kosten dafür ermittelt: Module, Gestelle, Trackingsystem, Installationsarbeiten, aber auch Grundstückspreise, Kreditkonditionen, das Gehalt der Wartungskräfte und die Kosten der Überwachungskameras finden sich auf der Ausgabenliste. Dem gegenüber stehen die Erlöse aus dem Stromverkauf. In 20 Jahren soll die Anlage 16 Prozent Gewinn erwirtschaften. Doch könnten sie damit einen echten Investor überzeugen, 20 Millionen Euro zu investieren? Die Vielfältigkeit findet Angelo Coscia an diesem Masterstudium so gut. „Es ist so praktisch, so komplett“, sagt er, „ganz anders als in Italien.“

Während seines ersten Studiums zum Master of Electronic Engineering sei zwar auch die Solarenergie behandelt worden, doch ein Photovoltaikmodul habe er erstmals hier in Berlin in die Hand bekommen. Auch die anderen Teilnehmer haben sich aus ähnlichen Gründen für Berlin entschieden. „Ich interessiere mich für alle Aspekte der Solartechnologie“, erklärt Saprem Kothari aus Indien. Bevor er sich spezialisiert, möchte er alles gesehen haben. Und obwohl er in ganz Europa und den USA nach einem geeigneten Masterstudium gesucht hatte, habe er nur hier die richtige Kombination gefunden.

Die Studenten besuchen Kurse in fünf verschiedenen Bereichen: Produktion, Projektierung, Management, interkulturelle Kommunikation und spezielle Profile. Im letzten Punkt finden sich Angebote wie Solarsysteme an Gebäuden, Elektrifizierung ländlicher Gebiete sowie Neugründungen und der Umgang mit Unsicherheiten und unscharfen Mengen (Fuzzy Sets). Aus den Modulen sollen die Studenten beliebige Veranstaltungen im Wert von 90 Kreditpunkten absolvieren, ein Praktikum nachweisen und eine Abschlussarbeit schreiben. Dabei ist es theoretisch möglich, den Abschluss schon nach zwei bis drei Semestern zu erreichen.

Internationales Netzwerk

Die Professoren wünschen sich jedoch, dass die Studenten sich etwas mehr Zeit nehmen, Berlin kennen lernen und auch andere Aktivitäten an der TU besuchen.Internationale Bachelors nach Berlin zu holen, sei eine riesige Chance für die Universität, glaubt Seliger, der für das gesamte GPE-Programm zuständig ist.

Auch der ältere Schwesterstudiengang GPE mit Schwerpunkt Manufacturing sei bei den Studenten sehr beliebt und sorge inzwischen für vielfältige Vernetzungen. So suchten deutsche Firmen zunehmend Ingenieure, die in ihren Heimatländern Projekte leiten oder Niederlassungen aufbauen könnten. Und auch wenn die Absolventen „nur“ das deutsche Know-how mit nach Hause nehmen und dort eine eigene Firma gründen, kann sich das auszahlen. Anfragen und Bestellungen kommen, der Studiengang wird weiterempfohlen, Studenten können auch im Ausland Projektpartner und die Universität Kooperationen finden. Viele Ehemalige halten über Grenzen hinweg den Kontakt untereinander und zum GPE. „Wir haben ein gutes Verhältnis und sind eigentlich eine Gruppe von Freunden“, findet Saprem Kothari. Schon der kleine erste Jahrgang des Solarzweiges könnte immerhin ein Netzwerk in neun Länder spannen, Deutschland eingeschlossen, das bisher keinen Teilnehmer stellt.

Die Studiengebühren in Höhe von 13.900 Euro bremsen die deutschen Bewerber aus, ist sich Seliger sicher. Diese seien politisch unerwünscht, aber nötig, um international wettbewerbsfähig zu sein. Die hohe Qualität des Programms werde zu 80 Prozent aus Drittmitteln finanziert. So war es möglich, als Partner die Renewables Academy (Renac) zu gewinnen. Deren Vorstand Berthold Breid hat gemeinsam mit Seliger das Konzept für den Studiengang entwickelt. Bei vielen Auslandsprojekten hatte er immer wieder festgestellt, dass es zwar ein großes Interesse an den Entwicklungen in Deutschland im Bereich erneuerbarer Energien gibt, aber kaum jemanden, der sie adäquat vermittelt. Die Renac soll nun diese Lücke schließen. In den Räumen in Berlin-Mitte können die Studenten an Geräten trainieren, die von den Herstellern gern zum Üben bereitgestellt werden.

Gleichzeitig besitzt Breid exzellente Kontakte zu den Experten in der Photovoltaik und Solarthermie und kann so einen Großteil der externen Dozenten für GPE Solar vermitteln. Er überzeugt die Unternehmen, selbst Seminare zu gestalten und ihre Technologie zu präsentieren. Nebenbei können sie den Nachwuchs sichten und sich die besten Kandidaten für eine spätere Einstellung herauspicken.

Vor Ort

„Ich habe bereits einen Studenten ins Auge gefasst“, bestätigt Klaus Neubeck von Inventux Technologies. Neubeck hat erst vor wenigen Wochen ein Kompaktseminar zur Dünnschichttechnik geleitet, das alle Studenten mit großem Interesse besuchten. Sie konnten im neuen Werk in Marzahn die Produktionslinien für Solarzellen besichtigen. Hier lernten sie die Beschichtungsanlagen für Front- und Rückkontakt, die dazwischen liegende mikromorphe Absorberschicht sowie die Laserstrukturierung für die monolithische Verschaltung kennen. Darüber hinaus wurden ihnen die einzelnen Prozessschritte bis zum fertigen Produkt vorgestellt. Im Labor durften sie an verschiedenen Messplätzen arbeiten und Gläser testen, die direkt aus der Produktion entnommen worden waren. Sie befassten sich mit reellen produktionsrelevanten Aufgabenstellungen und wurden dabei von den Spezialisten einem Wissenstest unterzogen. Den Kurs fanden viele Studenten so interessant, dass sie nun darüber nachdenken, sich bei Inventux um ein Praktikum zu bewerben oder ihre Masterarbeit dort zu schreiben.

Mit dem Verlauf des ersten Jahres sind Seliger und Breid sehr zufrieden. Die Bewerberzahlen für die zweite Runde seien deutlich gewachsen. Diesmal waren auch Frauen unter den Interessenten, und es wurden einige Bewerber aus Deutschland zugelassen. 25 bis 30 junge Bachelors sollen neu aufgenommen werden. Sie müssen sich dann in vielen Rollen bewähren, als Marketingexperten, als Forscher und Planer, als Techniker, Manager und eben als Banker. „Mir ist besonders wichtig, dass nicht nur die Technik vermittelt wird“, betont Breid. Eine Führungskraft müsse heute über Ingenieursabläufe hinausdenken.

Zurück im Seminarraum hält Finanzdozent Gerard Reid von Ardour Capital eine letzte Ansprache vor der entscheidenden Wettbewerbspräsentation in der nächsten Woche. „Über zehn Millionen wird nicht am Computer entschieden. Ihr Auftreten muss die Sympathien der Investoren gewinnen.“ Das Investorenkomitee bilden Reid und Studienkoordinator Oliver Zink. Obwohl es nur eine Übung ist, bestehen sie auf Anzug, Krawatte und die Einhaltung der Form. Und dann wird Reid noch einmal richtig deutlich. „Wenn ihr euer Kraftwerk bauen wollt, dann ist das Erste, was ihr tun müsst: euch rasieren!“

Cornelia Lichner

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