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Windkraft von der Dachkante

Wind gibt es auch in Städten. Gerade entlang der Fassaden von Hochhäusern strömt er recht kräftig. Der Schweizer Hersteller Anerdgy will mit seinem Produkt diesen Wind zur Energiegewinnung nutzen und das in Kombination mit Photovoltaik.

Die Windrail-Module, bestehend aus kleinen Wind- und Solargeneratoren, werden als Einheit direkt an der Dachkante installiert und fangen die über die Fassade nach oben steigenden Aufwinde ein. Das System Windrail generiert damit Strom aus Wind- und Sonnenkraft zugleich.

Zwei volatile Energieformen werden miteinander kombiniert, Elektroenergie auch in der Nacht und an wolkenverhangenen Tagen produziert. Das ist in Städten mit begrenzten Flächen im Verhältnis zum Energiebedarf der Gebäude ein bisher brachliegendes Potenzial.

Wind an Gebäuden unerforscht

Geschäftsführer Sven Köhler von Anerdgy hatte bei der Produktentwicklung von Anfang an die Kombination von Wind und Sonne in einem System zum Ziel. Auf größeren Mehrfamilienhäusern ist der Platz für klassische Photovoltaikanlagen beschränkt und auch oft aufgrund von Verschattungen nicht optimal nutzbar.

Gleichzeitig besteht an der Dachkante das größte Windaufkommen. „Das war der Ausgangspunkt für unsere Produktidee“, beschreibt Köhler die Anfänge.

„Doch Windströmungen an Gebäudekanten sind weitgehend unerforscht, und auch effiziente Elektronik ist für solche Anwendungen nicht verfügbar. Insofern war viel Grundlagenarbeit zu leisten“, berichtet er. Außerdem unterliegt die Gebäudekante nicht nur den Naturgewalten, sondern auch sehr vielen baulichen Bestimmungen, wie Brandschutz, Blitzschutz, Fallschutz, Regenwasserableitung, Schnee- und Eisabwehr. Insofern gibt es auch diverse Anspruchsgruppen wie Architekten, Gebäudetechnikplaner, Dachdecker oder Baubehörden. Nach drei Jahren Entwicklungsarbeit konnte das kleine Start-up-Unternehmen Ende letzten Jahres erstmals einen Prototyp auf einem Wohngebäude installieren. In einem einjährigen Feldtest werden nun die ersten Praxiserfahrungen gesammelt.

Wirkliche Feuerprobe ist hier möglich

Die Anlage wurde auf einem Mehrfamilienhaus in Berlin-Spandau installiert. Weshalb Anerdgy für das Pilotprojekt unbedingt ein Wohngebäude wollte, erklärt Sven Köhler: „Es gibt ganz viele Fragen, die wir im Praxistest untersuchen wollen – und dafür wäre ein Industriegebäude, bei dem Aspekte wie Lärm oder Verschattung nicht so kritisch sind, schlichtweg zu einfach gewesen.“

Das Wohnhaus in Berlin ist ideal: Es ist kein Neubau,und man kann nicht unbegrenzt Last aufs Dach bringen. Es ist hellhörig und hat eine anspruchsvolle Geometrie.

Insofern sind alle Schwierigkeitsgrade für eine wirkliche Feuerprobe gegeben, um für das System Windrail mit all seinen Aspekten am Ende auch tatsächlich Erfahrungswerte zu haben. Mit dem Berliner Wohnungsunternehmen Gewobag hat Anerdgy zudem einen Projektpartner gefunden, der bei erfolgreich bestandenem Test sowohl das Potenzial als auch das Interesse für weitere Installationen mitbringt.

Für Köhler war das Zusammentreffen mit den beiden Geschäftsführern der Energie- und Dienstleistungsgesellschaft der Gewobag ein besonderes Glück. Karsten Mitzinger, einer der Geschäftsführer der Gewobag ED, hörte von diesem neuartigen System. Für ihn klang die Idee plausibel. Er wollte sie fördern und ausprobieren. „Denn wenn es funktioniert, dann ist es ein probates Mittel, um Windenergieprojekte in die Stadt zu bekommen. Dies ist für zukünftige Quartiersentwicklungen durchaus interessant“, beschreibt Mitzinger seine Motivation.

Potenzial in Städten suchen

In seiner täglichen Arbeit realisiert er für die Gewobag, die immerhin 60.000 Wohnungen in Berlin verwaltet, nachhaltige quartiersbezogene Energiekonzepte, die auch für die Zukunft tragfähig und ausbaubar sein sollen.

Mit der eigenen Strommarke Quartier-Strom bietet die Gewobag ihren Mietern bereits heute mit Blockheizkraftwerken oder Photovoltaikanlagen dezentral produzierten Ökostrom an.

Der dritte Projektpartner im Bunde sind die Berliner Stadtwerke, die für Planung, technische Realisation und Betrieb der Anlage verantwortlich zeichnen. Das 2014 gegründete Stadtwerk darf auf der Grundlage des Berliner Betriebegesetzes nur Strom aus erneuerbaren Energien verkaufen, den es auch selbst produziert. Derzeit produziert das Stadtwerk grünen Strom für rund 20.000 Haushalte.

De facto zwei Anlagen

Für Alexander Schitkowsky, den technischen Leiter der Berliner Stadtwerke, steht bei diesem Pilotprojekt die Sammlung von Langzeiterfahrungen im Vordergrund. Vor allem die mechanischen Teile sollen ja genauso wie die Solarmodule über viele Jahre mit geringem Wartungsaufwand arbeiten.

Für die Berliner Stadtwerke ist es eine Herausforderung, in Berlin mit seinen begrenzten Flächen Potenziale für die Erzeugung von Strom aus erneuerbaren Energien zu heben. „Windrail ist deshalb ein interessanter Ansatzpunkt“, erklärt Schitkowsky. Gerade bei Hochhäusern gibt es im Verhältnis zur vorhandenen Wohnfläche nur eine geringe Dachfläche. Und mit mehr als 200 Hochhäusern mit einer Höhe von mehr als 50 Metern gibt es in Berlin gute Erfolgsausssichten für diese kleinen Hybridkraftwerke.

Zunächst mussten die Berliner Stadtwerke zusammen mit Anerdgy die technischen Voraussetzungen für die Netzkonformität des Systems herstellen. Da der Strom aus zwei unterschiedlichen Erzeugungsanlagen stammt, die unterschiedlichen gesetzlichen Vorgaben unterliegen, muss auch getrennt eingespeist werden. Obwohl keine Netzeinspeisung vorgesehen, sie aber theoretisch möglich ist, sind es de facto zwei Anlagen, obwohl sie zusammen als Einheit verbaut sind.

Da die Windkraftgeneratoren Wechselstrom erzeugen, sorgt ein Frequenzumrichter für die Umwandlung in nutzbaren Strom, bei den Photovoltaikmodulen ist es wie sonst üblich ein Wechselrichter. Beide werden getrennt überwacht, sogar sekundengenau, um möglichst viele Informationen über das Betriebsverhalten zu sammeln.

Das Prinzip des Kombikraftwerks

Ein Windrail-Modul besteht jeweils aus zwei Rotoren und vier Solarmodulen, die als Einheit direkt an der Dachkante installiert sind. Bei der Berliner Anlage wurden zehn dieser Kombinationen aufs Dach gesetzt.

Das Primat bei der Montage des Systems bildet die Dachkante und die Position der Windräder. Sie sind quer zur Dachkante angebracht, damit die Aufwinde optimal genutzt werden. Zwei Solarmodule sind schräg nach außen gewandt über dem Windrad angebracht und ragen über die Dachkante hinaus. Die zwei anderen Module sind auf der gegenüberliegenden Seite in die andere Richtung ausgerichtet. So bildet die Konstruktion für das Windrad eine Art Windkanal, der zusätzlich durch einen integrierten Windkanal aus Kunststoff unter den nach außen gewandten Modulen optimiert ist.

Statik und Lärmschutz

Bei zu starken Winden fährt das System in eine Sicherheitsstellung. Die nach außen gewandten Module senken sich ab und schließen so den Windkanal. Integrierte Windmesser sorgen bei bestimmten Windverhältnissen für die Auslösung der Sturmstellung.

Die Abschaltung bei Stromausfall erfolgt zunächst mit Restenergie aus dem System. Zusätzlich sorgt eine Kurzschlussschaltung an einem zweiten kleinen Motor für das Absenken der Module. Denn die Windräder können nicht wie herkömmliche Windgeneratoren aus dem Wind herausgedreht werden. Die Windräder und ihre Elektronik sind speziell entwickelt, die Solarmodule Standardmodule mit 72 Zellen.

Beim Nachweis der Statik muss vom Gebäude her gedacht werden. Eine Referenzstatik bildet die Grundlage, die aber für jedes Gebäude und jeden spezifischen Windlastanfall individuell angepasst werden muss. In Berlin wurden zwei speziell auf das Haus angepasste Grundrahmen angefertigt und auf dem Dach fest verankert. Sie wurden mit dem Gebäude verbunden, die Dachhaut also durchdrungen. Auf diesen Grundrahmen wurden an der nach Westen ausgerichteten Dachkante sieben Windrail-Module installiert, auf der gegenüberliegenden Dachkante nach Osten ausgerichtet nochmals drei.

Der Lärm der Windräder kann für Mieter eine Beeinträchtigung darstellen. Deshalb hat das Bauamt bei der Genehmigung der Anlage die Auflage erteilt, die Lärmemissionen zu messen. Diese Messungen laufen derzeit. Von ihrem Ergebnis hängt auch ab, bei welchen Windverhältnissen das System zukünftig arbeiten kann beziehungsweise in seine Sicherheitsstellung fahren muss.

Der Wind ist entscheidende Größe

Die Messungen wurden gemeinsam mit dem Bauamt genau geplant. Denn es ist wichtig, wann, unter welchen Bedingungen und wo genau etwas gemessen wird, da die Geräusche der Windräder je nach Witterungsverhältnissen variieren.

Hinzu kommt, dass bei kräftigem Wind auch ganz normale Windgeräusche entstehen. Es sind also komplexere Bedingungen zu untersuchen und zu beurteilen als beispielsweise bei einem Lüftungsschacht, für den es bestimmte Vorgaben gibt.

Für die Wirtschaftlichkeit des Kombikraftwerks ist vor allem der Wind entscheidend. Mindestens acht Meter hoch sollte das Gebäude sein, noch höher ist besser. Sind Gebäude niedriger, entstehen keine ausreichend starken Aufwinde an der Fassade.

In einer individuellen Analyse muss außerdem ermittelt werden, wie viel Wind es tatsächlich am Gebäude gibt und aus welcher Richtung er hauptsächlich weht. Auf Basis dieser Werte wird ein individuelles Design erarbeitet. Weil die Windgeneratoren fest verbaut sind und sich nicht in den Wind drehen können, ist die Gebäudegeometrie im Raum entscheidend.

Je mehr Funktion, desto günstiger

Wichtig für die Wirtschaftlichkeit ist die Integration des Systems in die Gebäudetechnik. Köhler bringt es auf eine einfache Formel: „Je mehr Gebäudefunktionen Windrail übernimmt, desto günstiger wird es.“

Bei Neubauten und auch bei Sanierungen kann man an vielen Stellschrauben drehen und Blitzschutz und Verbraucher im Haus integrieren. Setzt man das System auf Bestandsbauten einfach nur zusätzlich aufs Dach, muss es sich nur durch den Energieertrag amortisieren. Das ist schon schwieriger.

Als Faustformel gilt hier: Bei Neubauten reicht eine durchschnittliche Windlast von drei Metern pro Sekunde, bei Sanierungen sollten es schon vier Meter pro Sekunde sein. Bei zusätzlichen Installationen, die wenige Gebäudefunktionen übernehmen, sollte es durchschnittliche Windstärken von fünf Metern pro Sekunde geben. Bei dieser Windstärke produziert das Kraftwerk je zur Hälfte Photovoltaik- und Windstrom. Sinkt die Windstärke, erhöht sich der Solaranteil.

In der Ertragsprognose ist der zusätzliche Ertrag, der sich eventuell durch die Kühlung der Module durch die Windräder ergibt, nicht einberechnet. Die Projektpartner sind gespannt, wie stark dieser Effekt spürbar sein wird.

www.anerdgy.com

www.berlinerstadtwerke.de

www.gewobag.de

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