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AKW: Das Aus ist erst der Anfang

Heute, am Sonnabend, dem 15. April 2023, gehen die restlichen Atomkraftwerke in Deutschland vom Netz. In den Reaktoren in Isar 2 (Bayern), in Neckar-Westheim (Baden-Württemberg) und Emsland (Niedersachsen) fahren die Moderatorstäbe voll in die Bündel der Brennstäbe ein und bringen die Kettenreaktion zum Erliegen. Nach 60 Jahren ist Schluss mit der deutschen Atomkraft, die Apologeten gern als Kernkraft verharmlosen.

Mit der Abschaltung gehen rund 4,5 Gigawatt elektrische Leistung aus dem Netz. Man muss kein Prophet sein: Nirgends wird auch nur ein Lämpchen flackern. Denn die Bilanzen des Winters zeigen: Auch ohne Atomstrom wäre Deutschland gut durch die Energiekrise gekommen.

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Ein erstaunliches Geschrei

Umso mehr erstaunt das Geschrei, das kurz vor Ultimo bei den Liberalen und der Union ertönt. „Die Abschaltung der weltweit modernsten und sichersten Atomkraftwerke in Deutschland ist ein dramatischer Irrtum, der für uns noch schmerzhafte ökonomische und ökologische Konsequenzen haben wird“, hetzt beispielsweise Wolfgang Kubicki (FDP) in der Presse.

Wir fragen: Welche dramatischer Irrtum treibt den Vizechef der Liberalen um, solchen Blödsinn zu erzählen? Zur Erinnerung: Der Atomausstieg wurde 2011 nach dem Reaktor-Gau von Fukushima beschlossen, von einer schwarz-gelben Koalition.

Die teuerste Energieform überhaupt

Heute ist Atomstrom die teuerste Energieform überhaupt. Weltweit werden deshalb nur rund fünf Prozent des Strombedarfs aus Atomreaktoren gedeckt. Trotz blumiger Behauptungen von Politikern wie W.K. ist der Zubau neuer AKW eingebrochen und fast zum Stillstand gekommen.

Das hat Gründe, die Herr Kubicki in seiner selbstherrlichen Nonchalance nicht nennen will. Denn er gehört zu jenen Zynikern aus dem schwarz-gelben Lager, die ihr Ego pflegen, statt sich der Gesellschaft verpflichtet zu fühlen.

Budgets und Zeitpläne gesprengt

Allein der Blick auf Preise und Kosten müsste jeden halbgebildeten Laien überzeugen, dass es für die Atomkraft keine Zukunft gibt. Alle im vergangenen Jahrzehnt abgeschlossenen Bauvorhaben für neue Reaktoren haben das ursprünglich geplante Budget um das Drei- bis Vierfache gesprengt. Die Verzögerungen beliefen sich auf zehn Jahre und mehr. Während dessen haben Windkraftwerke und Photovoltaik das Preisrennen gewonnen, und zwar mit deutlichem Abstand.

Noch schlimmer sieht es bei der Reparatur der alten Atommeiler aus. In Frankreich sind derzeit 26 AKW der ersten Generation abgeschaltet, weil sie mehr oder weniger Schrott sind.

Das ist ein sehr unangenehmes Thema für den neoliberalen Präsidenten im Elysee-Palast. In Belgien, in UK, in den USA, in China und erst recht in Russland sieht es ganz ähnlich aus.

Ausstieg zeugt von wirschaftlichem Weitblick

Dass eine große Industrienation wie Deutschland aus der Atomkraft aussteigt, zeugt von ökonomischem Sachverstand. Es muss Schluss sein mit dieser riskanten und überteuerten Großtechnologie, die mit der Abschaltung längst nicht ausgestanden ist.

Kohlekraftwerke erzeugen kein Kohlendioxid mehr, wenn man sie abschaltet. Atomkraftwerke hingegen hinterlassen radioaktiven Schrott und verseuchte Flächen, deren Sanierung Unsummen verschluckt. Man kann davon ausgehen, dass der Rückbau eines einzigen Atomreaktors mindestens eine Milliarde Euro frisst. Er dauert mindestens zehn, wenn nicht gar 20 Jahre. Darin ist die Endlagerung der strahlenden Überreste noch nicht eingerechnet.

Der Brennstoff strahlt und strahlt

Denn die Nuklide verschwinden nicht. Was einmal als Uranerz aus dem Berg geholt und zu Brennstäben (oder Atomsprengköpfen) angereichert wurde, strahlt tausende Jahre (Plutonium) oder Milliarden Jahre (Uran). Das Zeug verschwindet nicht einfach, wenn man die nuklearen Brennkammern abschaltet.

Nach Einschätzung des russischen Physikers Andrej Sacharow bedeutet jeder einzelne nukleare Zerfall eine potenzielle Mutation im Erbgut. Jahrzehntelang haben Mediziner die Alarmglocken geläutet, weil die Fälle von Krebs und Leukämie (Blutkrebs) im unmittelbaren Zusammenhang mit AKW oder militärischen Atomanlagen nach oben schnellen.

Besonders schmutziger Bergbau

Besonders schmutzig war und ist der Uranbergbau. Freilich, in Europa gibt es keine Minen mehr. Die Sanierung der ostdeutschen Wismut AG in Ostthüringen und im sächsischen Erzgebirge hat bislang zehn Milliarden Euro verschlungen. Die Wismut AG war nach dem Krieg bis 1990 einer der größten Uranlieferanten der Welt. Die radioaktiven Erze wurden ausschließlich in die UdSSR verschickt.

Die Sanierung hat das reiche Westdeutschland bezahlt. Die ehemaligen Urangruben in Tschechien (Böhmen) hingegen sind nur notdürftig gesichert. Herr Kubicki, gehen Sie rüber, schauen Sie sich den Mist an! Damit Sie wissen, wovon Sie sprechen!

Verseuchung riesiger Areale verschwiegen

Weltweit drücken die Hinterlassenschaften des Atomzeitalters auf die öffentlichen Budgets. Denn die Mär vom sauberen und preiswerten Atomstrom lässt sich nur aufrechterhalten, wenn man die Verseuchung riesiger Areale in Kanada, den USA, Australien, Kasachstan oder Afrika verschweigt.

In Nordamerika kämpfen vor allem indigene Stämme darum, für die Krebsopfer und den Verlust ihrer Lebensräume entschädigt zu werden. Das Land am Großen Bärensee (Port Radium) und am Lake Athabasca (Uranium City) in Kanada ist mittlerweile unbewohnbar, obwohl die Gruben seit Jahrzehnten aufgegeben sind.

Verstrahlte Flächen überall

In White Sands im US-Bundesstaat Neumexiko, wo die ersten Atombomben getestet und ihr Abwurf von Flugzeugen geübt wurde, warten tausende Krebskranke auf Anerkennung und finanziellen Ausgleich. Als Kinder hatten sie die Atompilze bewundert, waren für die Spektakel auf die Hügel der Nachbarschaft geklettert, um die Explosionen zu bestaunen.

Die erste Plutoniumfabrik der Welt in Hanford im US-Staat Washington wurde zwar notdürftig beräumt, ist seit ihrer Stilllegung jedoch weiträumig abgeriegelt. Die Russen mussten ihr früheres Atomtestgelände in Semipalatinsk aufgeben, weil die radioaktive Belastung selbst den Militärs zu gruselig wurde.

Ein neues Tschernobyl

Die größte russische Uranmine in Krasnokamensk (Rotstein) in Transbaikalien ist derart verstrahlt, dass die benachbarte Stadt der Bergarbeiter umgesiedelt werden muss. So etwas gab es vorher nur einmal: in Tschernobyl.

Eine der größten Uranminen der Welt liegt im kongolesischen Katanga, in Shinkolobwe. Dort wurde das Uranerz gefördert, aus dem die Bomben für Hiroshima und Nagasaki gefertigt wurden. 1960 wurde der Abbau eingestellt.

Danach zogen sich die Belgier aus dem Kongo zurück, gaben ihre Blutkolonie auf. Seitdem liegen die Gruben ungeschützt und offen, nicht einmal adäquat eingezäunt. Nebenan wird Kupfer gefördert, inmitten der radioaktiven Stäube.

Aus den Augen, aus dem Sinn

Die Atommächte haben ihre Propaganda darauf gestützt, dass die Uranminen in der Regel in fern abseits gelegenen Gebieten ausgebeutet wurden. Aus den Augen, aus dem Sinn. Nur im Erzgebirge war das anders.

Dort unterlag der Abbau strengster Geheimhaltung, wurde mit dem unverfänglichen Element Wismut getarnt. Genützt hat es nichts: Die Subventionen, die in den ruinösen Uranbergbau flossen, haben die Wirtschaft der DDR über Jahrzehnte ausgehöhlt und untergraben.

Zehn Milliarden für den strahlenden Dreck

Immerhin: Zehn Milliarden Euro hat das vereinigte Deutschland berappt, um den strahlenden Dreck zumindest so zu versiegeln, dass sich weiterer Schaden in Grenzen hält. Der weltweit einzigartige Sanierungsfall hat deutschen Unternehmen hohe Kompetenzen und Erfahrungen im Rückbaugeschäft beschert.

Anstatt auf alte Atommeiler zu pochen, sollte Herr Kubicki lieber fordern, diesen deutschen Spezialunternehmen für nuklearen Rückbau bei der Internationalisierung ihres Geschäfts zu helfen. Das wäre ökonomisch weitblickend, ein echter Gewinn aus der Wiedervereinigung.

Irgendwer muss die Rechnung zahlen, überall

Denn irgendwer muss die Rechnung bezahlen, überall auf der Welt. Je länger die Staaten damit warten, desto mehr spaltbares Material, desto mehr Atomschrott fällt an, desto höher steigt die Verseuchung von Flächen und Gewässern.

Der Rückbau der nuklearen Altlasten wird über kurz oder lang ein riesiges Geschäft, vermutlich ebenso groß wie der Bau der AKW und die einstige Erschließung der Urangruben. Das ist eine Chance für deutsche Unternehmen, die technologisch und logistisch die Nase vorn haben.

Ein großer Tag für die Wirtschaftsnation

Fürwahr: Die Abschaltung der letzten drei Atommeiler in Deutschland ist ein großer Tag für die Umweltbewegung. Es ist auch ein großer Tag für die Wirtschaftsnation Deutschland, die einmal mehr ihre Innovationskraft unter Beweis stellt und sich neue Felder erschließt.

Der Kampf gegen die selbstmörderische Technologie ist damit jedoch nicht vorbei, auch in Deutschland nicht. Ein Beispiel: Die französische Firma ANF (Framatome) und Russlands Staatskonzern Rosatom wollen im Emsland neue Brennstäbe für alte Atomkraftwerke russischer Bauart produzieren.

Darf Rosatom in Lingen neue Brennstäbe bauen?

Tatsächlich ging ein entsprechender Antrag beim niedersächsischen Umweltministerium ein. Ungeachtet der Schweinereien im Krieg gegen die Ukraine, ungeachtet des Schachers um Tschernobyl oder das AKW in Saporoshija sollen in Lingen sechseckige Brennelemente entstehen, die in alten russischen Meilern in Osteuropa verstrahlt werden.

Eine unsägliche Frechheit, denn russische Atomfirmen stehen auf der Sanktionsliste der EU und der Vereinigten Staaten. Noch wurde der Deal nicht genehmigt. Dem Vernehmen nach sei aber ein russisches Schiff nach Rotterdam unterwegs, um Uranpellets anzulanden.

Heute demonstrieren in Lingen am ehemaligen AKW und vor der Brennelementefabrik die Gegner des Vorhabens. Die Abschaltung der letzten drei Atomreaktoren in Deutschland ist ein Meilenstein. Das Ende der Atomkraft ist es noch nicht, noch lange nicht.

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